* 30 *

30. Die Rote Röhre
Rote Röhre

Miarr stand auf, aber seine Beine knickten ein. Zitternd setzte er sich auf den Fußboden der Schlafkammer. »Lasst mich allein«, wimmerte er. »Ich bin dem Tod geweiht.«

»Also wirklich, Mr. Miarr«, sagte Lucy streng, »mit dieser Haltung werden Sie Ihr Licht niemals retten. Wolfsjunge und ich werden Sie tragen.«

»Bist du sicher?«, fragte Wolfsjunge.

»Ganz sicher«, antwortete Lucy.

Gesagt, getan. Sie trugen Miarr, der zum Glück viel leichter war, als er aussah, die beängstigend wackelige Treppe hinunter, bis sie im Erdgeschoss des Leuchtturms wieder sicheren Boden unter die Füße bekamen. Behutsam setzten sie ihn ab und verschnauften.

»Da entlang«, sagte Miarr und deutete auf zwei schmale Türen, die – eine schwarz, eine rot – im Halbdunkel unter der letzten Treppenwindung verborgen waren. »Öffnet die rote und kommt dann zurück und holt mich. Ich muss mich noch einen Augenblick ausruhen.«

Wolfsjunge nahm eine Lampe aus ihrer Halterung an der Wand und leuchtete Lucy, damit sie die Tür aufschließen konnte. Der Schlüssel drehte sich leicht, und Lucy stieß die Tür auf. Meeresgeruch schlug ihnen entgegen, und weit unten hörten sie Wellen plätschern. Lucy hielt erstaunt den Atem an. Wolfsjunge, der normalerweise nicht leicht zu beeindrucken war, pfiff vor Überraschung.

»Was ist das?«, murmelte er.

»Das ist die Rote Röhre«, tönte Miarrs Stimme aus dem Leuchtturm. Sie klang belustigt. »Das ist das Rettungsboot.«

»Das ist doch kein Boot«, erwiderte Lucy. »Das ist ...« Sie verstummte, denn sie fand keine passende Bezeichnung für die rote Riesendose vor ihr.

Wolfsjunge trat auf die Rote Röhre zu und stupste sie vorsichtig an. »Sie ist aus Metall«, sagte er.

»Wie kann sie denn aus Metall sein, wenn sie ein Boot ist?«, fragte Lucy.

Wolfsjunge kratzte mit dem Fingernagel einen Rostfleck weg. »Aber sie ist es. Irgendwie erinnert sie mich an diese Geschichten über Menschen, die vor Zeiten in solchen Dingern zum Mond geflogen sind.«

»Jeder weiß, dass sie nicht wahr sind«, sagte Lucy. »Wie soll man denn den ganzen Weg hinauf zum Mond fliegen?«

»Na ja ... natürlich sind sie nicht wahr. Selbstverständlich nicht.«

Lucy streckte ihm die Zunge heraus.

»Ich habe die alten Geschichten früher aber trotzdem gern gehört«, sagte Wolfsjunge und klopfte seitlich gegen das Boot. Es klang wie eine Glocke. »Eine Zeit lang hatten wir einen netten Oberkadetten – bevor sie dahinterkamen, dass er nett war und ihn eine Woche lang in eine Wolverinengrube steckten. Na, jedenfalls hat er uns Geschichten über den Mond erzählt, und die drehten sich immer um solche Dinge.«

Die Rote Röhre lag zwischen zwei Stahlgitterplattformen, die auf halber Höhe um sie herumführten. Sie war nach Wolfsjunges Schätzung ungefähr fünf Meter lang und hatte eine Reihe dicker grüner Glasfenster an den Seiten und ein großes vorn. Durch die Scheiben konnte Wolfsjunge die Umrisse der hochlehnigen Sitze ausmachen, die ganz anders waren als alle Sitze, die er jemals gesehen hatte.

Die Rote Röhre ruhte auf zwei parallelen Metallschienen. Die Schienen führten etwa sieben Meter weit und dann in einer scharfen Kurve steil nach unten in die Dunkelheit, aus der das Plätschern der Wellen heraufdrang. Wolfsjunge und Lucy spähten nach unten, und im Schein der Lampe sahen sie, dass die glitzernden Schienen im schwarzen Wasser verschwanden.

»In dem Ding können wir doch unmöglich fahren«, sagte Lucy, und der höhlenartige Raum hallte von ihrer Stimme wieder.

»Aber wie sollen wir denn sonst jemals von diesem Leuchtturm wegkommen?«, fragte Wolfsjunge. »Schwimmen?«

»Ach du liebe Zeit«, sagte Lucy und verstummte, was sonst gar nicht ihre Art war.

Miarr kam wackelig durch die rote Tür und trat zu ihnen auf die Stahlplattform neben der Roten Röhre.

»Bitte öffnet die Pilotenluke«, sagte er und deutete auf die kleinste und am weitesten entfernte der vier Luken, die hintereinander auf dem Dach angebracht waren. »Drückt auf den schwarzen Knopf davor, dann geht sie auf.«

Wolfsjunge kam sich wie in einer der Geschichten des Oberkadetten vor, als er sich über das Rettungsboot beugte und auf einen schwarzen Ring aus gummiartigem Material drückte, der im Metall des Daches versenkt war. Unter leisem Surren schwang die ovale Luke auf, und ein Geruch nach Eisen und feuchtem Leder strömte aus dem Innern der Kapsel.

Katzengleich sprang Miarr auf die Rote Röhre und verschwand in der Luke. Lucy und Wolfsjunge sahen durch die dicken grünen Fenster, wie seine verschwommene Gestalt sich in dem kleinen Sitz im Bug der Roten Röhre festschnallte und dann mit geübter Hand an einer Reihe von Knöpfen vor ihm drehte. Miarrs Luke schloss sich langsam wieder, und Lucy fragte sich, ob er die Absicht hatte, ohne sie zu fahren. In Anbetracht des schwindelerregenden Gefälles hätte sie es gar nicht so schlimm gefunden, wenn er ohne sie gefahren wäre. Aber daraus wurde nichts. Plötzlich durchschnitt Miarrs seltsam verzerrte und knisternde Stimme die Luft – wie, war Lucy und Wolfsjunge ein Rätsel.

»Bitte jetzt einsteigen.« Miarrs geisterhafte Stimme erfüllte die Höhle. Die größere Luke hinter der des Piloten schwang auf. »Beeilt euch. Die Kapsel startet in einer Minute.«

»In einer Minute?«, stieß Lucy hervor.

»Neunundfünzig Sekunden, achtundfünfzig, siebenundfünzig ...«

Miarrs Countdown begann, aber Wolfsjunge und Lucy zögerten.

»Fünfzig, neunundvierzig, achtundvierzig ...«

»Oh, Mist, wir sitzen hier fest, wenn wir es nicht tun«, jammerte Lucy und blickte panisch um sich.

»Ja.«

»Einundvierzig, vierzig, neununddreißig...«

»Vielleicht kommen wir dann nie von dem Leuchtturm weg. Niemals.«

»Ja.«

»Dreiunddreißig, zweiunddreißig, einunddreißig ...«

»Außerdem haben wir versprochen, das Licht zu retten.«

»Du hast es versprochen, meinst du wohl.«

»Fünfundzwanzig, vierundzwanzig, dreiundzwanzig •••«

»Gut, dann steig ein.«

»Du zuerst.«

»Neunzehn, achtzehn, siebzehn ...«

»Oh Mist jetzt beeil dich doch!« Lucy kletterte auf das gewölbte Dach des Rettungsbootes, holte tief Luft und ließ sich durch die Luke fallen. Sie landete auf dem Sitz hinter Miarr, konnte allerdings nichts von ihm sehen, da die gepolsterte Kopfstütze seinen hübschen, mit Seehundhaut bedeckten Kopf dem Blick verbarg. Lucy spähte durch das dicke grüne Fenster und sah, dass Wolfsjunge auf der Plattform zögerte.

»Elf, zehn, neun ...« Im Innern der Kapsel war Miarrs Stimme laut und klar.

»Steig ein!«, schrie Lucy, so laut sie konnte, und klopfte heftig gegen die Scheibe.

»Sieben, sechs...«

»Um Himmels willen, steig jetzt ein!«

Wolfsjunge war klar, dass er es tun musste. Er ließ alle Hoffnung fahren, noch länger als eine Minute zu leben, sprang hinein und landete mit einem Plumps neben Lucy. Ihm war, als sei er in seinem eigenen Sarg gelandet. Die Luke über ihm schloss sich wie ein Sargdeckel.

»Fünf, vier ... bitte anschnallen«, sagte Miarr. »Alle Besatzungsmitglieder müssen ihre Sicherheitsgurte anlegen.«

Lucy und Wolfsjunge tasteten nach den zwei breiten Ledergurten und schnallten sich an. Irgendwie wusste Miarr, dass sie jetzt angeschnallt waren, denn ohne nach hinten zu sehen, zählte er weiter.

»Drei, zwei, eins ... starten!«

Die Rote Röhre setzte sich in Bewegung. Die ersten sieben Meter legte sie enttäuschend langsam zurück, dann kippte sie nach vorn. Lucy stülpte sich der Magen um. Wolfsjunge kniff fest die Augen zusammen. Ein Kreischen ertönte, als der Bug des Boots auf den Schienen aufsetzte – und dann ging es abwärts.

In weniger als zwei Sekunden raste die Rote Röhre die Schienen hinunter. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen schlug sie auf dem Wasser auf, und dann tauchte sie zu Wolfsjunges Entsetzen immer riefer in die Dunkelheit hinab, immer tiefer und tiefer, so wie es ihn in jener Nacht vor so vielen Jahren, als er aus dem Boot der Jungarmee gefallen war, immer tiefer hinabgezogen hatte.

Und dann geschah dasselbe, was in jener Nacht mitten auf dem Fluss geschehen war: Die grauenhafte Tauchfahrt endete, das Wasser gab sie frei, und sie begannen, wie ein Korken an die Oberfläche zu steigen. Schimmerndes grünes Licht drang durch die kleinen Fenster, und im nächsten Augenblick durchbrachen sie in einer Fontäne aus tanzenden weißen Blasen die Wasseroberfläche, und Sonnenlicht flutete herein.

Wolfsjunge öffnete erstaunt die Augen – er war noch am Lehen.

Er blickte zu Lucy. Kreidebleich rang sie sich ein Lächeln ab.

»Start abgeschlossen«, sagte Miarr, dessen Stimme immer noch unheimlich knisterte. »Erfolgreich aufgetaucht. Luken dicht. Beginne mit kontrollierter Tauchfahrt.«

Und zu Lucys und Wolfsjunges Entsetzen begann die Rote Röhre wieder zu sinken. Das Sonnenlicht färbte sich grün, aus dem Grün wurde Indigoblau, und aus dem Indigoblau schließlich Schwarz. In der Kapsel ging ein schwaches rotes Licht an und spendete eine Wärme, die die Kühle ausglich, die aus den kalten Tiefen des Meeres hereindrang. Miarr drehte sich um, um mit seinen Passagieren zu sprechen. Seine Seehundkappe verschmolz mit dem dunklen Hintergrund, und sein flaches weißes Gesicht strahlte wie ein kleiner Mond. Seine großen gelben Augen funkelten vor Erregung. Er lächelte, und wieder schoben sich die zwei unteren Fangzähne über seine Oberlippe. Lucy erschauderte. Er sah ganz anders aus als das mitleiderregende Geschöpf, das in der Schlafkammer zu Boden gesackt war und dem sie unbedingt hatte helfen wollen. Sie fragte sich, ob sie nicht vielleicht einen verhängnisvollen Fehler begangen hatte.

»Warum sind wir ... untergetaucht?«, fragte sie, wobei sie sich bemühte, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen, was ihr nicht ganz gelang.

»Um das Licht zu finden, müssen wir zuerst in die Dunkelheit eintauchen«, antwortete er geheimnisvoll und wandte sich wieder seinem Steuerpult zu.

»Er ist verrückt geworden«, flüsterte Lucy Wolfsjunge zu.

»Wahnsinnig«, stimmte Wolfsjunge zu, der wusste, dass er mit dem Sarg die ganze Zeit recht gehabt hatte. »Komplett übergeschnappt, völlig plemplem.«

Septimus Heap 05 - Syren
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